Die zwei Handlungsstränge

Heute geht es um ein Thema, worüber kaum gesprochen wird: Handlungsstränge, genauer gesagt um den aktionalen Handlungsstrang und den emotionalen Handlungsstrang. Viele Autoren gehen damit automatisch richtig um, trotzdem ist es lohnenswert, sich damit auseinandersetzen. Denn selbst wenn man etwas richtig macht, kann man es in der Feinarbeit noch verbessern. 

Aber wovon spreche ich hier eigentlich? Lass es mich erklären. 

Der aktionale Handlungsstrang, oder auch story arc genannt, beschreibt die Ereignisse, die in der Geschichte geschehen. Die Plotmethoden, die wir auf Writenia nach und nach vorstellen, helfen genau hierbei. Wie reihe ich Event A, B und C aneinander? Was muss geschehen, damit D eintritt? Am bekanntesten ist wohl Brechts Modell: Einleitung, erregendes Moment, Höhepunkt und Peripetie, retardierendes Moment, Katastrophe. 

Meistens ist der aktionale HS in mehrere Stränge unterteilt: Die Haupthandlung (Frodo muss den Ring in Mordor zerstören) und die Nebenhandlungen (Gondor und Rohan, Sarumans Turm oder die Reise von Pippin und Merry). Diese sind unabhängig voneinander, können jedoch Berührungspunkte haben und kommen am Ende zusammen, sodass jedes Ereignis einen Sinn hat. 

Der emotionale Handlungsstrang, oder auch character arc genannt, beschreibt die Entwicklung des Charakters, also das Innenleben. Hierzu gibt es generell keine Plotmethoden, weil er sich je nach Persönlichkeit des Charakters unterscheidet. Ist der Charakter zu Beginn feige, wird er durch die Geschichte mutiger. Hat er ein zu großes Ego, verändert sich das mit den Buchseiten. Allerdings folgt auch der emotionale HS dem groben Schema Einleitung, Höhepunkt und Auflösung. Er wird aufgebaut, indem der Charakter fühlt: Fast jedes Ereignis aus dem aktionalen HS beeinflusst sein Innenleben, so wie es dich traurig macht, wenn deine Katze stirbt, oder du an dir selbst zweifelst, wenn Event X geschieht. Für gewöhnlich hat eine Geschichte mehrere emotionale HS, für jeden (wichtigen) Charakter einen. 

Um einen guten emotionalen HS zu schreiben, muss man vor allem den Charakter gut kennen und, unter dieser Voraussetzung, logisch denken. Ist der Charakter feige, wird er kaum in die dunkle Seitengasse stürmen, aus der ein Geräusch kommt, sondern schnell nach Hause laufen. Ist er egoistisch, wird er kaum für den Fahrradfahrer anhalten, der im Straßengraben liegt, sondern weiterfahren. 

Allerdings ist es wichtig, dass die Ereignisse ihn nach und nach verändern und er nicht auf ewig in seinen alten Verhaltensmustern festgefahren ist, ob sie nun gut oder schlecht sind. Bilbo Beutlin ist dafür ein fabelhaftes Beispiel: Je öfter er den Ring anzieht, desto besessener wird er. So ist das im Grunde auch mit dem emotionalen HS: Sein Innenleben wird immer weiter angestoßen, bis es am Höhepunkt umkippt. 

Um sicherzugehen, dass die Logik passt, kann man sich eine Übersicht anfertigen, so wie folgende:
(Anmerkung: Dabei handelt es sich um einen emotionalen Handlungsstrang aus TOD2, das im Frühjahr 2021 erscheinen wird. Zwar ist es einem älteren Entwurf zugehörig, das heißt, die Punkte stimmen nicht zu 100% mit dem Endbuch überein, aber Spoiler sind trotzdem möglich.)

INFO:
In den linearen Kästen habe ich seinen Gemütszustand so prägnant wie möglich beschrieben. In den Wolken stehen die Ereignisse aus dem aktionalen Handlungsstrang, die ihn beeinflussen. Und links daneben habe ich versucht, seine Stimmung in einem Smiley abzubilden, um mich immer mit einem Blick informieren zu können.
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Kurz gesagt: Ich habe seinen emotionalen HS dem aktionalen HS angepasst. Es gibt aber durchaus Autoren, die es andersherum machen.

Ein Buch ist aus den beiden Handlungssträngen gesponnen. Sie sind unweigerlich miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig, trotzdem muss man sie auch unabhängig voneinander betrachten. Jeder sollte seinen eigenen Höhepunkt und seine eigene Auflösung haben. 

Der Höhepunkt im AHS ist meistens das entscheidende Battle am Ende, aber das ist selten der Höhepunkt des EHS. Warum? Das kann man sich logisch ergründen: In einem Battle ist der Charakter wahrscheinlich Adrenalin gesteuert, es bleibt keine Zeit für große emotionale Wandlungen. 

So eine kann zum Beispiel davor geschehen: Der feige Charakter erfährt vom Herannahen der feindlichen Armee und kriegt totale Panik, nimmt reiß aus, das hat sich schon seit dem Anfang des Buchs angebahnt. Er hat versucht, mutig zu sein, aber jetzt geht es einfach nicht mehr. Der Höhepunkt ist spannend, wirft alles um und stellt den weiteren Verlauf der Geschichte in Frage. Es kann sein, dass ein anderer Charakter den Feigling findet und ihm Mut zuredet, was alles verändert. 

Mit Handlungssträngen muss man spielen, es gibt kein allgemein geltendes Regelwerk dafür. Das wichtigste ist, dass du deine Charaktere kennst und ihnen treu bleibst. Zwinge sie nicht in die Handlungsstränge, sondern lass sie selbst entscheiden, wie sie reagieren. Solange du dem natürlichen Fluss folgst, kannst du nichts falsch machen. 

Jetzt bist du dran: Hast du dir schonmal Gedanken über die beiden Handlungsstränge gemacht? Was sind deine Erfahrungen damit?

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